Die Schrift im Ãœberblick

II. Brachygrafie

Der Bedarf, schnell zu schreiben, beeinflusste nicht nur das Aussehen der Buchstaben, sondern brachte auch die Notwendigkeit der mit sich, Wörter abzukürzen. Dank den Abkürzungen konnte zudem Beschreibstoff gespart werden. Dieser war kostspielig, daher wurde er nur spärlich verwendet – je kürzer der Text, desto größer die Ersparnis. So entstanden Wortkürzungssysteme (Abbreviaturen, lat. abbreviatio), die sich insbesondere im Mittelalter stark entwickelten. Die Wissenschaft, die diese Systeme erforscht, nennt sich Brachygrafie. 

Die in der lateinischen Schrift verwendeten Abkürzungen können je nach ihrer Entstehungsart in drei Gruppen aufgeteilt werden:

  • Abkürzung durch Weglassung (Suspension, lat. per suspensionem) – nur der Wortanfang blieb bestehen, in manchen Fällen sogar nur der erste Buchstabe;
  • Abkürzung durch Zusammenziehen (Kontraktion, lat. per contractionem) – nur der Wortanfang und das Wortende, z. B. der erste und der letzte Buchstabe oder der erste, der letzte und ein Buchstabe aus der Wortmitte blieben bestehen;
  • feststehende Abkürzungszeichen – es wurden Zeichen gesetzt, die ein ganzes Wort oder ein Teilwort ersetzten.

Auch die heutzutage gängigen Abkürzungen können diesen drei Gruppen zugeordnet werden, z. B.:

  1. Prof. – Abkürzung durch Weglassung
  2. Mgr. – Abkürzung durch Zusammenziehen
  3. & – Abkürzung durch ein feststehendes Zeichen

Ähnlich wie die lateinische Schrift haben die Wortkürzungssysteme ihren Ursprung im antiken Rom. Die Römer verwendeten Siegel – Wörter, meistens Namen, die auf ihre ersten Buchstaben (manchmal nur auf den Anfangsbuchstaben) reduziert wurden. Sie entwickelten auch die sogenannten Tironischen Noten, ein Kurzschriftsystem, das den Anfang der spätereren Abbreviaturen bildete. Die mittelalterlichen Schreiber bedienten sich eines ausgedehnten Wortkürzungssystems, zu dem Abkürzungen aus allen oben genannten Gruppen gehörten. Auch bei Texten, die in den Nationalsprachen verfasst wurden, wandten sie manchmal Wortkürzungsmethoden aus dem Lateinischen an. Seit der Erfindung des Drucks und der Verbreitung des Papiers (das deutlich günstiger war als Pergament) verschwanden die Abkürzungen jedoch zunehmend.

Dieser Satz wurde im 12. Jahrhundert unter Verwendung von Abbreviaturen niedergeschrieben. Wenn Sie ihn nicht entziffern können, gehen Sie zu der nächsten Seite über.


d[omi]n[u]s Lup[us] ep[is]c[opus] plozensis p[er] cui[us] manu[m] elemosina data e[st]

 

Dort finden Sie Beispiele der gängigsten mittelalterlichen Abkürzungen. Die Abbreviaturen erschweren das Lesen alter Schriften erheblich. Daher lohnt es sich, im Zweifelsfall einen Blick in Nachschlagewerke zu werfen, in denen Abkürzungen aus verschiedenen Epochen aufgeführt werden. Das bekannteste davon ist das Lexicon abbreviaturarum: Dizionario di abbreviature latine ed italiane von Adriano Cappelli. Mehr Nachschlagewerke finden Sie unter Wissenswertes.